Lynch-Syndrom (früher HNPCC)
Das Lynch-Syndrom stellt eines der häufigsten erblichen Tumorprädispositionssyndrome (Prävalenz ca. 1:300) und die häufigste Form einer erblichen Darmkrebsprädisposition dar, mit Auftreten von Darmkrebs teilweise bereits in der 3. Lebensdekade. Weil es beim Lynch-Syndrom nicht zu einer gesteigerten Polypenbildung im Darm kommt, wurde die Erkrankung historisch als "Hereditäres, nicht polypöses kolorektales Karzinom (HNPCC)" bezeichnet. Da beim Lynch-Syndrom neben Dickdarmkrebs aber auch diverse weitere Tumoren gehäuft und in jungem Alter auftreten können, wurde der Begriff HNPCC weitestgehend verlassen. Zu den Lynch-Syndrom-assoziierten Tumoren zählen insbesondere Gebärmutterschleimhautkrebs, seltener Eierstockkrebs, Dünndarmkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Krebs der Gallenwege, Magenkrebs, Krebs der ableitenden Harnwege und der Blase, sowie bestimmte Hauttumoren und selten Hirntumoren (s. Tabelle 1). Ein relevant erhöhtes Risiko für Brustkrebs besteht nach derzeitigem Kenntnisstand hingegen nicht.
Tumorart | MLH1 | MSH2 | MSH6 | PMS2 | Lebenszeitrisiko Allgemeinbevölkerung | ||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
M | F | M | F | M | F | M/F | M | F | |
Alle | 71,4 | 81 | 75,2 | 84,3 | 41,7 | 61,8 | 34,1 | 23,5 | 25 |
Dick- und Mastdarm | 57,1 | 48,3 | 51,4 | 46,6 | 18,2 | 20,3 | 10,4 | 6 | 4,9 |
Gebärmutter | - | 37 | - | 48,9 | - | 41,1 | 12,8 | - | 2 |
Brust | 12,3 | 14,6 | 13,7 | 15,2 | 0,1 | 12,2 | |||
Eierstöcke | - | 11 | - | 17,4 | - | 10,8 | 3 | - | 1,3 |
Dünndarm, Magen, Pankreas, Gallenwege | 21,8 | 11 | 19,5 | 12,8 | 7,9 | 4,2 | 3,6 | 4,1 | 3 |
Harnwege | 11,7 | 9,2 | 30,4 | 26,6 | 9,7 | 6,7 | 4 | 1,7 | 1 |
Prostata | 14 | - | 24 | - | 9 | - | 5 | 10,9 | - |
Gehirn | 0,7 | 1,6 | 2,9 | 7,7 | 1,8 | 1,2 | 0 | 0,7 | 0,6 |
Quellen: Dominguez-Valentin, M. et al.; Genet. Med. (2020), doi: 10.1038/s41436-019-0596-9; Krebs in Deutschland 2015/2016 (2020), https://edoc.rki.de/handle/176904/6012.3. M-Männer; F-Frauen
Tumore beim Lynch-Syndrom weisen als typisches Merkmal eine sogenannte "Mikrosatelliteninstabilität" oder "Mismatch-Repair-Defizienz" auf. Mit dem Begriff „Mikrosatelliteninstabilität“ (MSI, MSI-H oder MSI-high) beschreibt man Abweichungen in der Anzahl kurzer, sich wiederholender Erbgutabschnitte – den Mikrosatelliten. Im Rahmen der "Mismatch-Repair-Defizienz" werden fehlerhaft eingebaute Bausteine (Basen) in neu hergestellten DNA-Strängen im Rahmen der Zellteilung nicht entdeckt und korrigiert, so dass sich im Erbgut nach und nach Mutationen (genetische Veränderungen) anhäufen, die eine Tumorbildung begünstigen.
Im Rahmen der Diagnostik wird zunächst das Tumorgewebe der Betroffenen auf diese Lynch-Syndrom-typische Auffälligkeiten hin untersucht. Wird eine solche nachgewiesen, schließt sich in der Regel eine genetische Testung auf eine Mutation eines der Lynch-Gene in der an, wobei die Untersuchung zunächst möglichst bei dem erkrankten Familienmitglied erfolgen sollte. Bei Nachweis einer krankheitsverursachenden Mutation besteht auch für gesunde Familienangehörige die Möglichkeit einer prädiktiven Testung.
Wir möchten an dieser Stelle auf den Wegweiser für Ratsuchende mit Verdacht auf Lynch-Syndrom bzw. bei Diagnose Lynch-Syndrom der Selbsthilfegruppe Semi-Colon hinweisen. Dieses Dokument wurde entwickelt, um
- kompakte Informationen zum Lynch-Syndrom bereitzustellen,
- einen Überblick über die medizinischen Fakten zum Lynch-Syndrom zu geben,
- bei der Entscheidungsfindung zur genetischen Testung zu unterstützen,
- für die Kommunikation des Krebsrisikos in der Familie etwas an die Hand zu geben,
- über Anlaufstellen, Beratungsangebote und Kontaktadressen zu informieren, und
- Awareness für das erbliche Krebsrisiko zu schaffen.
INDIKATION FÜR EINE MOLEKULARGENETISCHE UNTERSUCHUNG
Patienten mit einer Keimbahnmutation in einem der DNA-Reparaturgene erfüllen in max. 60 % der Fälle die Amsterdam-II-Kriterien. Um auch die übrigen Patienten zu erfassen, wurden in der Folge die weniger strengen Bethesda-Kriterien als Indikatoren zur (molekular)pathologischen Analyse des Tumorgewebes(Mikrosatellitenanalyse und Immunhistochemie) entwickelt. Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass ca. 20% der erkrankten Mutationsträger*innen keine dieser klassischen klinischen Kriterien erfüllen. Aus diesem Grund wird in einigen Ländern bereits ein generelles Screening für alle Betroffenen von Dickdarm- und Gebärmutterschleimhautkrebs, den häufigsten Lynch-assoziierten Tumoren, empfohlen.
Amsterdam-II-Kriterien (alle Kriterien müssen erfüllt sein)
- Mindestens drei Familienangehörige mit HNPCC-assoziiertem Karzinom (Kolon/Rektum, Endometrium, Dünndarm, Nierenbecken/Ureter)
- Einer davon Verwandter ersten Grades
- Erkrankungen in mindestens zwei aufeinander folgenden Generationen
- Mindestens ein Patient mit der Diagnose eines Karzinoms vor dem 50. Lebensjahr
- Ausschluss einer Familiären Adenomatösen Polyposis coli (FAP)
Bethesda-Kriterien (revidiert; mindestens ein Kriterium muss erfüllt sein)
- Kolorektales Karzinom bei einem Patienten, Erstdiagnose vor dem 50. Lebensjahr
- Synchrone/metachrone Kolon-/Rektumkarzinome oder HNPCC-assoziierte Karzinomerkrankungen (Endometrium, Nierenbecken/Ureter, Dünndarm, Magen, Pankreas, Gallengang, Ovar, hepatobiliäres System und Gehirn – üblicherweise Glioblastome, Talgdrüsenadenome und Keratoakanthome) unabhängig vom Alter
- Kolorektales Karzinom mit MSI-H typischer Morphologie, diagnostiziert bei einem Patienten vor dem 60. Lebensjahr
- Patient mit kolorektalem Karzinom und mindestens einem erstgradig Verwandten mit einem HNPCC-assoziierten Tumor (s.o.), mit mindestens einem Tumor, dessen Erstdiagnose vor dem 50. Lebensjahr gestellt wurde
- Patient mit kolorektalem Karzinom und mindestens zwei erst- oder zweitgradig Verwandten mit HNPCC-assoziierten Tumoren (s. o.), unabhängig vom Erkrankungsalter
VERERBUNG
Das Lynch-Syndrom wird durch heterozygote (auf der mütterlichen oder der väterlichen Genkopie vorliegende) krankheitsverursachende Genveränderungen (Mutationen) in einem der Gene des DNA-Mismatch-Reparatursystems (MLH1, MSH2, MSH6, PMS2) ausgelöst, das normalerweise während der Zellteilung auftretende Fehler im Erbgut korrigiert. Dabei erkennt das Reparatursystem eine Fehlpaarung der Basen (Grundbausteine des Erbguts) in den DNA-Doppelsträngen und schneidet sie heraus, so dass im Rahmen einer Neusynthese der Fehler behoben werden kann (Abb. 1). Das ringförmige Molekül PCNA ist dabei an der Rekrutierung und richtigen Ausrichtung des Reparaturkomplexes beteiligt. Defekte in den Proteinen der MMR können zur Akkumulation von weiteren Mutationen führen. Als bekanntestes Beispiel hierfür gilt die sogenannte Mikrosatelliteninstabilität.
Die Genveränderung ist fast immer von einem Elternteil geerbt. Durch den Defekt kommt es zur Anhäufung dieser Fehler und in der Folge einer beschleunigten Krebsentstehung. Das Lynch-Syndrom wird autosomal-dominant vererbt, dies bedeutet, dass Mutationsträger*innen die krankheitsverursachende Veränderung geschlechtsunabhängig mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% an alle Nachkommen weitergeben. In der Regel sind mit gleicher Wahrscheinlichkeit auch alle weiteren erstgradige Angehörigen (Geschwister, Eltern) von der Mutation betroffen. Je nach betroffenem Gen, müssen Mutationsträger*innen mit einem Lebenszeitrisiko von ca. 35 bis 80% rechnen, an einem Lynch-Syndrom-assoziierten Tumor zu erkranken. Weil nicht jede*r Mutationsträger*in auch erkrankt, spricht man von inkompletter Penetranz. Aber auch gesunde Mutationsträger*innen können die Genveränderung an Nachkommen weitergeben. Für alle blutsverwandten Angehörigen (Risikopersonen) besteht die Möglichkeit einer prädiktiven (vorhersagenden) Testung ab dem 18. Lebensjahr, bei der die Veränderung entweder nachgewiesen oder ausgeschlossen wird.
FRÜHERKENNUNG
Mutationsträger*innen und Risikopersonen, bei denen die ursächliche Genveränderung noch nicht ausgeschlossen wurde, sollten ab dem 25. Lebensjahr oder 5 Jahre vor dem Ersterkrankungsalter des jüngsten Betroffenen in der Familie lebenslang die folgenden Früherkennungsuntersuchungen wahrnehmen:
- Dickdarmkrebs: komplette Koloskopie ab dem 25. Lj.* 1-bis 2-jährlich,
- Magen- und Dünndarmkrebs: Ösophagogastroduodenoskopie ab dem 25. Lj.* 1- bis 3-jährlich, mit Testung auf und ggf. Eradikation von Helicobacter pylori,
- Gebärmutterschleimhaut- und Eierstockkrebs (Frauen): transvaginale Sonographie und Gebärmutterschleimhautbiopsie mittels Pipelle ab dem 30-35. Lj. jährlich (optional). Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der risikoreduzierenden Entfernung von Gebärmutter und Eierstöcken nach abgeschlossener Familienplanung.
LITERATUR / LEITFADEN / SELBSTHILFEGRUPPE
LITERATUR
Lynch Syndrome. Idos G, Valle L. Gene Reviews.
LEITFÄDEN
Endoscopic management of Lynch syndrome and of familial risk of colorectal cancer: European Society of Gastrointestinal Endoscopy (ESGE) Guideline. van Leerdam ME, Roos VH, van Hooft JE, Balaguer F, Dekker E, Kaminski MF, Ltchford A, Neumann H, Ricciadiello L, Rupinska M, Saurin JC, Tanis, PJ, Wagner A, Jover R, Pellisé M. Endoscopy 2019 51: 1082–1093.
Guidelines for the management of hereditary colorectal cancer from the British Society of Gastroenterology (BSG)/Association of Coloproctology of Great Britain and Ireland (ACPGBI)/United Kingdom Cancer Genetics Group (UKCGG). Monahan KJ, Bradshaw N, Dolwani S, Desouza B, Dunlop MG, East JE, Ilyas M, Kaur A, Lalloo F, Latchford A, Rutter MD, Tomlinson I, Thomas HJW, Hill J, Heretitary CRC guidelines eDelphi consensus group. Gut 2020;69:411–444. https://10.1136/gutjnl-2019-319915
European guidelines from the EHTG and ESCP for Lynch syndrome: an updated third edition of the Mallorca guidelines based on gene and gender. Seppälä TT, Latchford A, Negoi I, Soares AS, Jimenez-Rodriguez R, Sanchez-Guillen L, Evans DG, Ryan N, Crosbie EJ, Dominguez-Valentin M, Burn J, Kloor M, von Knebel Doeberitz M, van Duijnhoven FJB, Quirke P, Sampson JR, Moller P, Möslein G, the European Hereditary Tumour Group (EHTG) and European Society of Coloprotectology (ESCP). British Journal of Surgery 2021. 108 (5); 484–498, https://doi.org/10.1002/bjs.11902
SELBSTHILFEGRUPPE