Interview mit Prof. Stefan Ehrlich
Was ist Magersucht und wie kommt es dazu? Dazu befragten wir Prof. Dr. med. S. Ehrlich, Bereichsleiter und Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie am Universitätsklinikum Dresden. Mit verschiedenen Methoden erforschen er und seine Mitarbeiter diese psychische Krankheit.
Was ist Magersucht?
Magersucht kennzeichnet sich durch selbst herbeigeführtes Untergewicht, als Richtwert gilt ein BMI von unter 17,5 bzw. unter der 10. BMI Altersperzentile. Weiterhin empfindet sich die Person immer noch als zu dick. Es liegt also eine Körperschemastörung vor. Hinzu kommt eine Gewichtsphobie, Angst vor dem Zunehmen. Im Falle von Mädchen und jungen Frauen geht dies auch einher mit dem Ausbleiben der Regelblutung.
Wie häufig kommt Magersucht vor?
Die Prävalenz ist 1 in 1000 bis 5 in 1000. Vor allem junge Mädchen sind betroffen, aber auch Jungen. Unsere Patienten werden immer jünger. Magersucht ist aber keine Neuzeiterkrankung. In historischen Quellen und in alten Gemälden ist Magersucht beschrieben bzw. dargestellt. Wir wissen nicht, wie häufig sie damals war, aber keinesfalls gibt es sie erst seit moderne Medien ein überzogenes Schlankheitsideal vermitteln.
Wie gefährlich ist Magersucht?
Magersucht ist eine ernstzunehmende psychische Störung. In 10 Prozent der Fälle endet sie mit dem Tod, denn bei einem sehr niedrigen BMI droht Lebensgefahr durch Organversagen. Außerdem besteht bei den häufig auch unter Depressionen leidenden Patienten erhöhte Suizidgefahr.
Was sind die Ursachen?
Wir wissen, dass Betroffene eine genetische Veranlagung mitbringen. Dabei handelt es sich vermutlich um Risikovarianten von vielen verschiedenen Genen. Zusammen erhöhen diese dann das Risiko in einer bestimmten Lebenssituation eine Magersucht zu entwickeln. Dafür kann es dann auch einen Auslöser geben. Solche Trigger sind z.B. eine Diät, die jemand in der Familie beginnt, oder Bekannte/Schulfreunde. Aber auch die Medien wie Castingshows können einen Auslöser darstellen.
Wie sieht eine Behandlung aus?
Wir setzen auf mehrere Behandlungsbausteine. In leichteren Fällen reicht es oft aus, wenn die Familien Hilfestellung im Alltag speziell bei der Essensplanung erhalten. Die Familientagesklinik arbeitet nach einem systemischen Therapiekonzept mit 5 bis 7 Familien gleichzeitig. Sie verbindet die bei jugendlichen Anorexie-Patienten als effektiv befundene Familientherapie mit den Wirkfaktoren der Gruppentherapie. Multifamilientherapie ist mehr als „Familientherapie mit Vielen“. Es entstehen hierbei spezifische Effekte: Als Beispiel seien die Schaffung von Solidarität und Hoffnung, Überwindung von Isolation und Stigmatisierung oder auch Schaffung neuer und multipler Perspektiven genannt.
In schweren Fällen ist eine stationäre Behandlung zwingend. Dabei stehen zuerst der Erhalt und die Stabilisierung der Vitalfunktionen auf dem Plan. Mit viel Einfühlungsvermögen bauen die Therapeuten Vertrauen zu den jungen Patientinnen auf. Daran schließt sich die Psychotherapie, Ergo- und Körpertherapie.
Wie ist die Prognose von Magersucht?
Rund 40 Prozent der Magersüchtigen genesen nach der Therapie vollständig und werden normalgewichtig, bei 20 bis 30 Prozent bleiben Restsymptome mit einem starken Zwang, das Gewicht zu kontrollieren, weitere 20 bis 30 Prozent gelten als chronisch krank
Was kann man tun, damit es nicht zu Magersucht kommt?
Eine ausgeglichene Balance zwischen Leistung/Disziplin einerseits und Entspannung/Genuss andererseits ist für Kinder sehr wichtig. Darauf sollten Eltern und Lehrer achten. Sowohl Über- als auch Unterforderung kann sich ungünstig auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirken. Eltern sollten ihren Kindern einen unkomplizierten Umgang mit Essen vorleben. Gelegentliches Schlemmen und gesunde Ernährung schließen sich nicht aus. Generelle Schutzmechanismen die Kinder und Jugendliche weniger anfällig für psychiatrische Störungen machen, sind stabile Bezugspersonen und ein gesundes Selbstbewusstsein.
An welchen Fragen forscht Ihre Arbeitsgruppe?
Wir befassen uns schwerpunktmäßig mit Entscheidungsprozessen bei Magersucht und deren Grundlagen im Gehirn. Hierbei geht es um die Frage, wie – auf neuronaler Ebene – kognitive und emotionale Prozesse kontrolliert werden. Viele Menschen treffen Entscheidung auch mal aus dem Bauch heraus. Magersüchtige sind bei ihren Entscheidungen vielleicht weniger spontan. Dies könnte sich auch in den aktiven Gehirnregionen wiederspiegeln. Mit bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomografie können wir den Ablauf vom Reiz bis zur Handlung besser nachvollziehen und herausfinden, wo Unterschiede zwischen Gesunden und Magersüchtigen bestehen. D.h. bei der Empfindung von Reizen, bei der Bearbeitung von Reizen oder bei der Handlung.