06.01.2022 - "Wahnsinnig frustrierend"
Prof. Roessner sprach mit den Dresdner Neuesten Nachrichten über die Auswirkungen der Pandemie auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen, lange Wartezeiten für Behandlungen und welche Optionen es zur Verbesserung der so angespannten Situation geben könnte. Den Beitrag können Sie auf den Seiten der DNN nachlesen.
Wir danken den DNN für die Möglichkeit, den Artikel hier im Volltext zur Verfügung zu stellen.
„Wahnsinnig frustrierend“
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden die Wartezeiten immer länger. Das hat nicht nur mit Corona zu tun. Im Interview mit den DNN fordert Psychiatrieprofessor Veit Rößner, Klinikdirektor am Universitätsklinikum Dresden, ein grundsätzliches Umdenken.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie kann den Ansturm in der Coronapandemie kaum noch bewältigen. Es gibt lange Wartezeiten. Professor Veit Rößner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Universitätsklinikum Dresden, fordert im DNN-Gespräch grundsätzliche Änderungen.
Wie geht es den Kindern und Jugendlichen nach dem zweiten Jahr mit der Coronapandemie?
Wie sich schon im ersten Jahr angedeutet hat, nehmen vor allem die stillen Störungen zu. Das sind vor allem Probleme mit sich selbst, wenn jemand glaubt zu dick zu sein oder schmutzige Hände zu haben oder Angst vor sozialen Situationen hat. Da fehlt die positive Rückmeldung, der Beweis des Gegenteils durch die Interaktion mit anderen, was durch die Pandemie eingeschränkt ist.
Wie macht sich das in Ihrer Klinik bemerkbar?
Wir haben täglich telefonische Anfragen für einen Erstkontakt mit der Klinik. Die Wartezeiten werden immer länger und belaufen sich teilweise schon auf ein Jahr und länger. Wir haben auch immer mehr persönliche Hilferufe von Nachbarn oder Angehörigen, wo mit allen Mitteln versucht wird, einen früheren Termin zu bekommen. Es melden sich längst nicht mehr nur die Kollegen, die in schwierigen Fällen einen Patienten in der Uniklinik vorstellen wollen. Dabei ist die Klinik in den zwölf Jahren, in den ich hier bin, deutlich gewachsen, aber trotzdem schaffen wir es nicht. Das ist wahnsinnig frustrierend, weil ich immer gehofft habe, dass wir frühzeitiger helfen können.
Welche Fälle sind besonders betroffen?
Bei Essstörungen, Zwangsstörungen, Autismus haben sie Wartezeiten von bis zu einem Jahr oder sogar Aufnahmestopp. Und auch bei anderen Störungen - wie Schulproblemen, Beziehungsproblemen in den Familien oder psychosomatischen Störungen - dauert es bis zu einem Ersttermin drei, vier Monate oder mehr. Das ist deutlich mehr als vor der Coronapandemie teilweise doppelt so lange oder länger. Die niedergelassenen Kollegen sagen das Gleiche.
Welche Folgen hat das für die Kinder und Jugendlichen und sind diese noch vertretbar?
Je länger auf eine Abklärung und Behandlung gewartet wird, umso mehr verfestigen sich die Probleme, wird eine Genesung langwieriger und die Gefahr der Chronifizierung steigt. Am Beispiel Zwangsstörungen: Wir haben genügend Studien, die zeigen, dass mit jedem Tag der Nichtbehandlung die Prognose schlechter wird. Da ist es schon traurig zu sehen, dass zwar die Probleme viel früher von den Familien erkannt werden, aber Hilfe doch noch viel zu spät einsetzt. Da es sich um Kinder und Jugendliche mit noch vielen Jahrzehnten Lebenszeit und um unsere Zukunft handelt, ist dies neben dem Leid der Betroffenen in einer alternden Gesellschaft mit Fachkräftemangel nicht vertretbar.
Wie kommt es zu dieser Verschärfung der Situation, obwohl doch gerade durch das Vermeiden von Schulschließungen etwa solche negativen Folgen vermieden werden sollten?
Es gab auch vor Corona schon den Trend der kontinuierlichen Zunahme. Das gesellschaftliche Miteinander hat sich auch bei Kindern und Jugendlichen deutlich verändert. Veränderungen in der Umwelt, also in der Schule, in der Familie, im Alltag, führen heute bei der gleichen Veranlagung häufiger zu Problemen. In einer Zeit, in der auch die Erwachsenen merken, dass sich das Leben komisch anfühlt, haben die Kinder und Jugendlichen viel, viel weniger Möglichkeiten, positive Erfahrungen zu sammeln. Ein weiterer, kleiner Effekt liegt darin, dass die Gesellschaft heute ein größeres Bewusstsein für solche Probleme hat.
Ist der Kampf gegen die Schulschließungen, für den die Politik auch viel Kritik einstecken muss, dann unsinnig?
Nein. Aber generell ist es wichtig, dass besonders hier eine sinnvolle Kosten-Nutzen-Abwägung vorgenommen wird, weil wir mit mehr Schulschließungen unsere ganze Zukunft aufs Spiel setzen würden. Aber leider auch vor Corona schon fand die Idee, präventiver, frühzeitiger Kindern und Jugendlichen mit psychischen Problemen zu helfen, kaum Gehör. Die Probleme sind meist komplex und nicht sichtbar und Psychiatrie steht aus geschichtlichen Erfahrungen mit Missbrauch heraus auchheute immer noch in einer gewissen Schmuddelecke.
Sind Sie noch in der Lage, adäquat auf den Ansturm zu reagieren, haben Sie genügend Ressourcen?
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es seit Jahrzehnten Fachkräftemangel. Wir haben es hier am Universitätsklinikum in den letzten Jahren immer noch geschafft, genügend junge Menschen für das Fach zu begeistern. Es fehlt jedoch angesichts des Ansturms an Stellen und Räumen. Aber in der Peripherie, wo es möglicherweise genügend räumliche Kapazitäten in Kliniken gibt, fehlt es an Nachwuchs. Wir haben dagegen genügend Bewerber, aber wir haben zu wenig Raum.
Wird vom Land Sachsen zu wenig getan, um Bewerber für freie Stellen in Kliniken im ländlichen Raum zu gewinnen?
Ich sehe keine Chance, mit mehr Geld oder anderen materiellen Anreizen, hier in Sachsen dem bundesweiten Trend etwas entgegensetzen zu können. Die jungen Menschen, die hier in Dresden ihre Aus- und Weiterbildung gemacht haben, wollen hier bleiben, weil sie in einer attraktiven Stadt mit vielen Angeboten leben wollen, das gilt auch für Fort- und Weiterbildungsangebote. Deshalb muss die Möglichkeit geschaffen werden, über Telemedizin diese Fachleute auch in der Peripherie, in weiter entfernteren Regionen zum Einsatz zu bringen. Warum können freie Stellen im ländlichen Bereich nicht auf diese Weise besetzt werden, sie sind ja da? Im Gegensatz zu anderen Fachbereichen funktioniert der Einsatz ausländischer Fachkräfte in der Psychiatrie nur sehr begrenzt, weil die Sprache eine viel größere Rolle spielt. Ohnehin gibt es in der Psychiatrie auch in der Aus- und Weiterbildung Nachteile gegenüber anderen Fachrichtungen.
Was meinen Sie damit?
In der Chirurgie, in der auch wenig standardisierbar ist, würde ein Neuling nach dem Studium nie eine Operation allein
vornehmen. Das macht ein Facharzt und der Assistenzarzt steht dabei und qualifiziert sich. In der Psychiatrie ist das leider anders, da ist nicht immer ein Facharzt anwesend bei den Gesprächen. In der Chirurgie, um bei dem Beispiel zu bleiben, wird das besser aus dem System heraus finanziert und ist es Standard.
Vor einem Jahr hatten Sie gesagt, es sei nicht so schlimm gekommen, wie befürchtet. War das damals eine
Fehleinschätzung?
Jetzt ist es schlimmer, als wir erwartet haben. Vor einem Jahr dachte auch ich nicht, dass die Pandemie so lange dauern wird. Kinder und Jugendliche haben auch wenn sie sehr Schlimmes erlebt haben sehr gute Adaptationsmöglichkeiten, können eine ganze Menge bewältigen. Es scheint jetzt aber aufgrund der Dauer der Veränderungen so, dass sich bestimmte Sachen aufschaukeln. Vieles, was vor Corona schon problematisch war, aber gerade noch so zu schaffen war, ist nun noch schlechter geworden. So gab es zum Beispiel schon vor Corona in den Jugendämtern viel zu viele betreute Familien pro anwesendem Mitarbeiter. Jetzt hat man das Gefühl, es wird alles noch instabiler. Es ist auch weiterhin traurig, dass es dem Staat nicht gelingt, für die Schnittstelle zwischen Schule, Jugendämtern und Kinder- und Jugendpsychiatrie eine pfiffige Lösung zu finden, mit der Sachsen auch einmal bundesweit einen positiven Eindruck machen könnte.
Woran denken Sie dabei?
Schulverweigerung, Rechtschreibstörung oder Drogenprobleme können wir hier in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht allein beheben. Das kann auch Schule nicht allein retten. Hier geht es um das gemeinsame Tun, ineinandergreifendere, synergistischere Systeme. Es leuchtet jedem ein: Wenn die Not groß ist, nützt es nichts, nur hier und da ein weiteres Pflaster drauf zu kleben. Da muss es grundsätzlichere Änderungen geben. Dann könnte Sachsen sagen, seht mal, so läuft’s. Die Welt wird nicht wieder auf den Vor-Coronazustand zurückkehren.
Ingolf Pleil