Gestationsdiabetes
Genetik des Gestationsdiabetes
Herausforderung in der Diabetologie
Obwohl in den letzten Jahrzehnten in der Therapie des Diabetes durch verbesserte Behandlungsmethoden viel erreicht wurde, stehen wir nach wie vor - bedingt durch die Zunahme der Zahl von Patienten mit T2DM - vor dem medizinischen, sozialen und ökonomischen Problem „Diabetes“. Es besteht kein Zweifel daran, dass Adipositas und körperliche Inaktivität wichtige Risikofaktoren für T2DM darstellen, wenngleich eine genetische Prädisposition wahrscheinlich die Grundlage bildet, auf der ein „ungesunder“ Lebensstil die Manifestation der Erkrankung begünstigt. Maßgeblich durch die drastische Veränderung unseres Lebensstils bedingt, beobachten wir in den letzten 20 Jahren einen deutlichen Anstieg von Häufigkeit und Ausmaß der Übergewichtigkeit, der von einer parallelen Entwicklung der Prävalenz des Typ-2-Diabetes mellitus in den USA und in Deutschland begleitet ist. Eine der großen Herausforderungen in der Diabetologie unserer Zeit ist neben dem Aufbau von effektiven Programmen zur Diabetesprävention der Umgang mit der Fülle des täglich wachsenden Wissen um die genetischen Ursachen des Diabetes mellitus Typ 2 (T2DM) und damit auch des Gestationsdiabetes.
Physiologie der Diabetesentstehung
Die wesentliche pathophysiologische Ursache des Typ-2-Diabetes ist eine verminderte Wirkung des Insulins (Insulinresistenz). Die Insulinresistenz entwickelt sich auf der Grundlage einer genetischen Prädisposition, deren genauer Mechanismus noch nicht eindeutig geklärt ist. Schon mehrere Jahre vor der Diabetesdiagnose entwickelt sich die Insulinresistenz mit kontinuierlich steigenden Insulinwerten bei noch „normalen“ Blutzuckerwerten (Abbildung 1). Das wird durch eine kontinuierlich gesteigerte Insulinsekretion der Betazellen in der Bauchspeicheldrüse gewährleistet. Die gesteigerte Insulinsekretion führt aber wiederum zu einem Hyperinsulinismus. In dieser Phase verliert der Körper die Fähigkeit, schnell auf sich verändernde Blutzuckerspiegel zu reagieren (z. B. nach einer Mahlzeit) und es kommt zu einer Verlangsamung der Blutzuckerregulation, da sich die Ruhesekretionsleistung für das Insulin schon auf einem sehr hohen Niveau befindet. In diesem Zustand ist die Glukosetoleranz gestört (impaired glucose tolerance – IGT), bei noch größtenteils „normalen“ Blutzuckerwerten. Nach einem Zeitraum permanenter Steigerung der Insulinsekretion wird die maximal mögliche Schwelle der Steigerung erreicht und überschritten. Dabei kommt es nach und nach zur Dekompensation einzelner insulinsezernierender Zellen und zur Abnahme der Gesamtsekretionsleistung. In der Regel beginnt in diesem Moment das Stadium des Diabetes.
Bei der Entwicklung eines Gestationsdiabetes laufen ähnliche Mechanismen ab. Während der Schwangerschaft kommt es zu einer Zunahme der Insulinresistenz. Ein Anstieg des Blutzuckerspiegels wird aber durch eine erhöhte Insulinsekretion verhindert. Kann diese aber nicht mehr ausreichend gesteigert werden, kommt es zu einem Gestationsdiabetes, über den Verlauf der Restschwangerschaft. Nach der Geburt bildet dieser sich in vielen Fällen mit der deutlichen Abnahme der Insulinresistenz wieder zurück (Abbildung 1).
Abbildung 1 Modell der Pathogenese des Typ 2 Diabetes, modifiziert nach: DeFronzo RA et al.,
Diabetes Care 1998
Genetik des Diabetes mellitus
Das Risiko von Nachkommen von Typ 2 Diabetikern, selbst diese Erkrankung zu bekommen, liegt zwischen 25 und 50%. Wenngleich eine zum Übergewicht führende Ernährung und Bewegungsmangel die Manifestation des Typ-2-Diabetes verursachen, bildet eine genetische Prädisposition wahrscheinlich die Grundlage, auf der ein „ungesunder“ Lebensstil die Erkrankung begünstigt. Forschungsergebnisse der letzten Jahre zeigen, dass genetische Faktoren in der Pathogenese des Typ-2-Diabetes eine entscheidende Rolle spielen.
In dieser Zeit sind verschiedene genetische Faktoren, die mit Typ-2-Diabetes assoziiert sind, gefunden worden (CAPN10, APM1, PPAR-g, E48K in Kir6.2, AV98 in HNF1a). Mit der Entdeckung des CAPN10-Gens unter Mitarbeit unserer Arbeitsgruppe konnte ein entscheidender vererbter Risikofaktor für den Typ-2-Diabetes beschrieben werden. Man geht davon aus, dass sich beim Typ-2-Diabetes - einer multifaktoriellen polygenetischen Erkrankung - verschiedene genetische Faktoren in einem oder mehreren Genen summieren und im Zusammenspiel mit den entsprechenden Umweltfaktoren, wie fettreicher Ernährung und Bewegungsmangel, in einem schleichenden Prozess zur Manifestation der Erkrankung führen. Dabei wird nicht die Erkrankung selbst, sondern die Disposition dafür vererbt.
Abbildung 2Genetisch – Physiologisches Modell der Diabetesentstehung, modifiziert nach Saltiel, A.R.,
Cell, 2001.
Somit ist die Genetik des Diabetes mellitus im eigentlichen Sinne die „Genetik der Insulinsekretion“ oder die „Genetik der Insulinresistenz“. Wenn man noch weiter in die Tiefe gehen will, ist die Diabetesgenetik letztendlich die Genetik der Lipolyse im viszeralen Fett, der Glukoneogenese in der Leber, der Betazellfunktion, der Glukoseaufnahme in die Zelle und der muskulären Insulinresistenz (Abbildung 2). An all diesen physiologischen Prozessen sind Rezeptoren, Enzyme und Transporter beteiligt, die Proteine sind. Als Korrelat haben diese Proteine ihren Bauplan in Form eines Gens in unserer DNA im Zellkern. Stimmt also der Bauplan (unter Umständen auch nur geringfügig) nicht, so ist die Proteinfunktion verändert (verstärkt oder vermindert). Das muss im Einzelnen nicht unbedingt Krankheitswert haben. Summieren sich aber viele solcher Veränderungen, enden sie in einem klinischen Bild, was einem erhöhten Diabetesrisiko entspricht. Hinzukommen genetische Einflüsse auf weitere Risikofaktoren, wie Übergewicht und Altern. Weiterhin können solche metabolischen Veränderungen beim Gesunden unbemerkt bleiben, sich aber in einer metabolischen Belastungssituation, wie zum Beispiel einer Schwangerschaft, manifestieren. Genetische Faktoren, die eine metabolische Situation begünstigen, die in der Schwangerschaft in einer Hyperglykämie mündet, machen somit die Genetik des Gestationsdiabetes aus.
Genetik des Gestationsdiabetes
Die Genetik des Gestationsdiabetes unterscheidet sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht sehr deutlich von der Genetik des Typ 2 Diabetes, da die klinischen Grundlagen letztendlich die gleichen bleiben. Zum Beispiel ist es denkbar, dass die maximal mögliche Insulinsekretion durch verschiedene genetische Faktoren bedingt verringert ist. Dafür kann es zwei verschiedene Ursachen geben:
- eine verringerte Betazellmasse (verringerte Anzahl Betazellen) durch eine gestörte embryonale Entwicklung der Betazellen
- verlangsamte oder gestörte Funktion der adulten Betazellen, die keine ausreichende Insulinsekretion gewährleisten können
Beide Prozesse führen zu einem verringerten Sekretionsmaximum und zu einer verringerten Insulinreserve der Betazelle. Im normalen Alltag kann eine solche Veränderung irrelevant sein, da zur normalen Blutzuckerregulation nur ein Bruchteil der Insulinreserve nötig ist. Diese Person hat jedoch ein deutlich erhöhtes Typ 2 Diabetesrisiko, da sie bei der „normalen“ Entwicklung der Insulinresistenz deutlich eher das Sekretionsmaximum erreichen wird und die Betazellen eher dekompensieren werden.
Während der Schwangerschaft kommt es physiologisch zu einer verminderten Insulinsensitivität. Diese wird durch den Anstieg und die Wechselwirkungen der Schwangerschaftshormone verursacht. Während einer normalen Schwangerschaft führt die verringerte Insulinsensitivität zu einer bis zu 4-fach gesteigerten Insulinsekretion, um den veränderten metabolischen Anforderungen gerecht zu werden. Wird die oben beschriebene Risikoperson aber schwanger, steigt die Insulinresistenz in kurzer Zeit schnell an und das reduzierte Sekretionsmaximum wird erreicht, wird anschließend inadäquat und der Gestationsdiabetes entsteht (Abbildung 3).
Abbildung 3„Genetisches“ Modell der Pathogenese des Gestationsdiabetes,
GD = Gestationsdiabetes, NGT = Normale Glukosetoleranz, IGT = gestörte Glukosetoleranz
Genetische Faktoren, die das eine verminderte Insulinsensitivität und ein Versagen der Betazelle, die adäquate Insulinmenge zu produzieren, bewirken, sind somit genetische Risikofaktoren für einen Gestationsdiabetes.
Das „Versagen der Betazelle“ kann zum einen durch eine Störung der Glucosesensorfunktion der Betazelle, zum anderen durch eine insgesamt verminderte Insulinsynthese, bzw. einer geringeren Anzahl an Betazellen, bedingt durch eine gestörte Betazellentwicklung, verursacht sein. Beide Mechanismen unterliegen einer strengen genetischen Kontrolle und können im Alter zur Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ 2 beitragen. Gestützt wird diese Hypothese einerseits durch eine höhere Prävalenz von gestörter Glukosetoleranz bzw. Typ-2-Diabetes bei den Eltern von betroffenen Patientinnen, und andererseits durch neue Ergebnisse, die zeigen, dass fast 90% der Frauen, die einen Gestationsdiabetes hatten, später einen Typ-2-Diabetes entwickeln. Verschiedene genetische Mechanismen, die einen Gestationsdiabetes bedingen können, sollen hier kurz vorgestellt werden.
Störung der Glukosesensorfunktion der Betazelle
Das Enzym Glukokinase ist als Glukosesensor und Schlüsselenzym in der Betazelle des Pankreas bekannt. Die Glukokinase phosphoriliert Glukose und schleust sie in die Glycolyse in der Betazelle ein. Auf diese Art „misst“ die Betazelle den Blutglukosespiegel, um anschließend Insulin auszuschütten. Mutationen im dazugehörigen Glukokinasegen führen häufig zum „Messen“ eines falsch niedrigen Blutglukosespiegels und damit zu einer inadäquaten Insulinsekretion bei vorhandener Insulinreserve, da die Betazelle „denkt“, der Blutglukosespiegel sei niedriger. Mutationen in diesem Gen sind häufige Ursache einer milden Form von MODY (Maturity onset diabetes of the Young). Verschiedene Studien identifizierten Mutationen im Glukokinasegen bei 2,5%-6% der Gestationsdiabetikerinnen.
Störung der Insulinbereitstellung
Abbildung 4 zeigt eine Übersicht zu aktuellen Kenntnissen über die Regulation der adulten Betazellfunktion. Dargestellt sind verschiedene Proteine, die für die Funktion der Betazelle eine entscheidende Rolle spielen. Mutationen in den dazugehörigen Genen führen zu der jugendlichen Diabetesform MODY, einem autosomal-dominanten Defekt in der Insulinsekretion mit Manifestation vor dem 25. Lebensjahr. So genannte „milde“ Mutationen in diesen Genen sind mit einem später auftretenden Typ 2 Diabetes assoziiert. Verschiedene dieser Gene haben eine direkt regulierende Wirkung auf das Insulingen und steuern damit die Menge des zur Verfügung stehenden Insulins. Der vermutliche pathogenetische Zusammenhang ist, dass es bei Veränderungen in diesen Genen zu einer inadäquaten Insulinbereitstellung oder –sekretion kommt. Damit sind diese Gene durchaus als Ursache für einen Gestationsdiabetes interessant. Die Missensemutationen A98V und P447L in HNF1alpha oder Phe199Ser im Neurogenin3-Gen (ngn3) sind mit einer bis zu 30% verringerten Insulin- und C-Peptidesekretion oder überschießender Insulinantwort und früher Erschöpfung der Betazelle assoziiert.
Abbildung 4Diese Abbildung zeigt das Netzwerk, bestehend aus verschiedenen bekannten
Transkriptionsfaktoren, die in die Regulation der Insulinsekretion einbezogen sind.
Die grün unterlegten Ovals bezeichnen Gene, die in der Pathogenese von MODY
bekannt sind. Blaue Rahmen bedeuten Assoziation dieser Gene an Typ-2-Diabetes.
Störung der Betazellentwicklung (verminderte Zahl an Betazellen)
Abbildung 5 zeigt, welche Gene in der Embryonalentwicklung zeitlich abhängig für die Entwicklung der insulinproduzierenden Betazelle sowie der Alphazelle aus einer unbekannten Progenitorzelle verantwortlich sind. Zum Teil sind die gleichen Gene in die Entwicklung und später in die Insulinsekretion der Betazelle involviert (Abbildung 4) Mutationen in diesen Genen sind mit Typ-2-Diabetes oder Pankreasagenesie assoziiert. Für die adäquate Betazellentwicklung ist das nacheinanderfolgende Anschalten dieser Gene verantwortlich. Alteration dieser Gene durch Mutationen kann in einer verringerten (aber auch vergrößerten) Betazellmasse enden, die wiederum das Risiko für einen Gestationsdiabetes erhöht, da die maximal mögliche Sekretionsschwelle erniedrigt ist.
Abbildung 5 Entwicklung der Beta- und Alphazelle embryonal.
Darstellung, welche Gene nacheinander in die Entwicklung involviert sind.
Gestationsdiabetes durch generelle Diabetesdisposition
Kürzlich konnte durch Mitarbeit unserer Arbeitsgruppe CAPN10 als erstes diabetesassoziiertes Polygen identifiziert werden. Genetische Veränderungen in CAPN10 sind für ungefähr 10% des Diabetesrisikos in der deutschen Bevölkerung verantwortlich.
Abbildung 6 Organisation der NIDDM1-Region mit dem CAPN10 Gen. Darstellung der
einzelnen genetischen Varianten in dieser Region. UCSNP-43, -19 und -63
bilden Kombinationen (sg. Haplotypen), von denen zwei das Typ-2-Diabetesrisiko erhöhen.
Verschiedene laufende neue Arbeiten zeigen, dass genetische Varianten in CAPN10 für eine verstärkte Expression der CAPN10-mRNA verantwortlich ist und dass Inhibition der CAPN-Protein Gruppe die Glucosetoleranz verbessert. Laufende Experimente machen eine Kombination aus verstärkter Insulinresistenz (Einfluss von freien Fettsäuren) und verringerter Insulinreserve (verminderte Konversion von Proinsulin zu Insulin) für die Typ-2-Diabetes-Genese verantwortlich. Diese Phänomene könnten demzufolge auch mit Gestationsdiabetes assoziiert sein. In ersten Untersuchungen konnte dazu gezeigt werden, dass genetische Varianten in diesem Gen in 18% der Gestationsdiabetikerinnen vorkommen.
Wir gehen davon aus, dass der Gestationsdiabetes durch Unvermögen der Betazelle, mit einer adäquaten Insulinsekretion auf den metabolischen Stress während der Schwangerschaft zu reagieren, entsteht. Genetische Veränderungen, die Einfluss auf die Insulinsekretion oder die Betazellmasse haben, könnten somit pathogenetisch bedeutsam für Gestationsdiabetes sein. Solche genetische Varianten in den oben genannten Genen sind bekannt. Man kann heute zeigen, das etwa 20% des Gestationsdiabetes vererbt ist – es ist aber davon auszugehen, dass fast jeder Gestationsdiabetes eine genetische Veranlagung aufweist, die in vielen Fällen dem oben dargestellten Modell folgt.
Durch Identifikation dieser "genetischen" Risikogruppe könnten Risikopersonen vor Beginn des Gestationsdiabetes erkannt werden und Therapiekonzepte dem Versagen der Betazellfunktion angepasst werden. Weiterhin könnte man anhand dieser genetischen Faktoren die Personen identifizieren, die ein erhöhtes Typ 2 Diabetesrisiko haben. Anhand genetischer Parameter könnte somit die Früherkennung eines Diabetesrisikos vor Erkrankungsbeginn und sogar vor dem diagnosefreien hyperglykämischen Intervall möglich werden und damit Bedeutung für die Primärprävention der Erkrankung erlangen.
Korrespondenz
Dr. med. Peter E.H. Schwarz
Medizinische Klinik III
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden
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