Theaterprojekt in der Semperoper
»Ich will der Mörder sein!«, platzt es aus Richard heraus, sobald er die Handlung von »Street Scene« gelesen hat. Die Augen des 12-Jährigen funkeln munter, als er mit der Spielzeugpistole im Requisitenkoffer liebäugelt. Die Gruppe, bestehend aus 8 jugendlichen CI-Trägern im Alter von 12 bis 16 Jahren erhält von den Pädagogen der Jungen Szene der Semperoper Jan-Bart DeClercq und Carola Schwab und einer Sprachtherapeutin vom SCIC Dresden Dominique Müller die ersten Anweisungen. Jeder soll sich in eine Figur aus Kurt Weills Oper hineindenken, um gemeinsam ein Standbild zu erschaffen. Etwas verlegen grinsend steht Richard als betrogener Ehemann und Mörder Frank neben »seiner Frau Anna« alias Josefine, die sich standhaft weigert, das »hässliche Ding« anzuziehen, das als Kleid dienen soll. Unter typischem Teenie-Gekicher richten sich schließlich alle in ihren Positionen ein, während Ausschnitte aus der Oper erklingen. Eine Scene wie in jedem anderen Theaterworkshop, oder doch nicht? CI und Oper, geht das?
Eine der Hauptaufgaben der Jungen Scene ist es, neue Musiktheater-Werke, neue Stoffe und neue Vermittlungsformen für jugendliche Zuschauer zu entwickeln und Oper/Theater somit für Jugendliche greifbar zu machen. Des Weiteren soll die Freude am Spiel und am kreativen Selbsterleben erfahrbar gemacht werden. Davon sollen auch Jugendliche mit veränderten Zugangsvoraussetzungen nicht ausgeschlossen werden. Für die Teilnehmer wie auch die Veranstalter ist dies der erste Workshop dieser Art. Immer wieder wurde an der Konzeption gefeilt: »Der Fokus sollte auf der Musikwahrnehmung liegen. Wir wollten damit experimentieren, wie besondere Hörwahrnehmungen ästhetisch umgesetzt werden können.« Dabei sollte auch die Grenze von Sprache und Bewegung überschritten, die Musik also sinnlich und visuell erfassbar werden. Ein gelungenes Beispiel hierfür war die Erstellung einer grafischen Partitur, bei der die Schüler ihre Eindrücke von der Musik zuerst beschreiben und dann malen sollten. Tatsächlich ist die Gruppe Feuer und Flamme für die Ouvertüre, möchten sie wieder und wieder anhören und verfolgen sogar die Takte im Notenbild. Erstaunlich sicher bestimmen sie einzelne Instrumente. Kniffliger wird die nächste Aufgabe: Wie lassen sich die Assoziationen in ein Bild fassen? An Staffeleien stehen die Schüler in der Sonne auf dem Hof und bringen mit Pinsel und Finger Farbe aufs Papier: Diese Gemälde sollen später als Bühnenbild für eine Szenencollage dienen.
Denn bei allem musikalischen Schwerpunkt soll das Theaterspielen nicht vernachlässigt werden. »Aber wir müssen nicht singen?«, fragt Eli bange, als es nach dem Mittagessen auf der Probebühne 2 an die ersten szenischen Übungen geht. Nein, singen muss niemand. Dafür bleibt manchen erst einmal das Wort im Halse stecken, als sie in kleinen Gruppen aus einem Standbild heraus eine Szene improvisieren sollen. Doch die Anspannung fällt, als sie z.B. lernen, wie man eine ordentliche Theaterbackpfeife austeilt und daraufhin überzeugend zu Boden geht. Bald sind drei Szenen gestellt, sogar in Kostümen und mit Musikuntermalung. Die jugendlichen CI-Träger sind dabei im Umgang miteinander sehr aufmerksam und reagieren stark auf Mimk und Gestik des Anderen. Jan-Bart DeClercq ist beeindruckt: »Das Zusammenspiel der Kinder funktioniert besser als bei unseren sonstigen Schülern.« Die starke Konzentration auf optische Eindrücke bekommen die Theaterpädagogen das gesamte Wochenende lang zu spüren. Stets müssen sie so stehen, dass alle auf ihren Mund sehen können, während sie sprechen. »Die Anweisungen müssen klar und deutlich sein. Wenn die Kinder einmal losstürzen, bekommen sie nicht mehr mit, was man ihnen hinterherruft«, bemerkt Jan-Bart DeClercq selbstkritisch. Beim szenischen Spiel allerdings sprudeln sie über vor Ideen und selbst als der zweite Workshoptag seinem Ende zugeht, heißt es immer wieder »Wir könnten doch noch ...«
Doch morgen ist ja auch noch ein Tag, genau genommen der große Tag, an dem alles bisher Erarbeitete zu einem Ganzen zusammengefügt und den Eltern und Geschwistern präsentiert werden soll. Dafür heißt es noch einmal ordentlich proben. Einige Übergänge sind noch nicht klar, Eli zieht den Vorhang in die falsche Richtung und Laura verwechselt immer noch die Worte »schreiben« und »sprechen«. Nach der Generalprobe gibt es noch eine kleine Opernführung. Mit großen Augen bestaunen alle das prächtige Foyer, erkunden die Unterbühne, erwachen im Requisiten-Lager zu neuem Leben und lassen sich von einer Ballettprobe verzaubern.
Eingekleidet mit der offiziellen Bühnenkleidung, dem schwarzen Semperoper-T-Shirt läuft die Premiere bestens, von Lampenfieber keine Spur trotz der etwa dreißig Zuschauer. Am Ende werden noch die grafischen Ouvertüren präsentiert, bevor sich alle zum Schlussapplaus verbeugen – dem Publikum hat es offensichtlich gefallen. Und den Teilnehmern selbst? »Das Malen war toll!« »Die Opernführung war total spannend!« »Und dass wir richtig vor Publikum gespielt haben!« »Das nächste Mal müssen wir unbedingt auch tanzen!«, »Und mal auf eine Probe gehen, mit den Sängern sprechen, wie sie an die einzelnen Szenen herangehen.«
Das Fazit lautet also einstimmig: CI und Oper, aber klar. Der Workshop hat den Jugendlichen geholfen selbstbewusster mit Musik und Sprache umzugehen und sie erstmals mit einer bisher fast unbekannten Welt in Berührung gebracht. Abgeschlossen wird dieses Projekt durch den Besuch der Premiere von Street Scene in der Semperoper. Alle Seiten sind sich jedoch einig, dass soll nicht das letzte Projekt dieser Art gewesen sein.