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Sich tanzend begegnen

Eine Woche lang trafen sich über 20 hörgeschädigte und hörende Jugendliche auf Einladung der Dresdner Semperoper und des Sächsischen Cochlear Implant Centrums (SCIC) zu einem gemeinsamen Tanzworkshop.

Workshop16klein.jpgEin kalter Freitagmorgen Anfang April. Sonne zeigt sich zaghaft. Und auf dem Weg durch die Dresdner City scheint die Stadt noch verschlafen. Es sind Osterferien in Sachsen. Und deshalb steht auch das alte Schulgebäude der Mittelschule „Gottlieb Traugott Bienert“ in der Nöthnitzer Straße verlassen und leer. Nur in der benachbarten Turnhalle brennt das Licht. Und wer das Gebäude betritt, die Tür zum hellen Saal öffnet, der ist dem geruhsamen Dresdner Morgen endgültig entkommen:

“I like to move it, move it”, dröhnt es aus einem großen Ghetto-Bluster in die Weite des Sportsaals. Stampfender Rhythmus füllt den Raum. Und die mehr als 20 Tänzer, die im weiten Rund Aufstellung genommen haben, greifen den Rhythmus auf, federn im Takt, wippen in den Hüften, drehen sich nach links, nach rechts, klatschen, wieder nach links, lassen ihre Arme in weiten Bögen kreisen, rennen wie wild auf der Stelle, sind Schnellläufer, flitzende Comic-Helden, dann wieder ungelenke Puppen. Sie folgen mit ihren Bewegungen denen der Vortänzerin, die jeden Wechsel, jede neue Übung mit einem kurzen Kommando ankündigt, bis die Aufwärmrunde zu Ende ist.

Wir sind zu Gast beim mittlerweile dritten Projekt, das die „Junge Szene“ der Semperoper Dresden gemeinsam mit dem Sächsischen Cochlear Implant Centrum (SCIC) des Universitätsklinikums Dresden für hörgeschädigte und hörende Kinder und Jugendliche ausrichtet. – „Nach zwei Theater-Projekten wollten wir diesmal einen Tanzworkshop machen“, so Theaterpädagoge und Projekt-Leiter Jan-Bart De Clercq von der Semperoper. „14 hörgeschädigte und acht hörende Jugendliche im Alter von 12 bis 20 Jahren arbeiten daran mit, entdecken fünf Tage lang die Möglichkeiten, die ihnen Tanz und Theater, Körper und Bewegung für den eigenen künstlerischen Ausdruck bieten.“ – „Bei der Umsetzung des Projektes unterstützt uns zudem die Palucca Hochschule für Tanz“, ergänzt Mitorganisatorin Dominique Müller, Sprachtherapeutin des SCIC. „Die beiden Tanzpädagogik-Studentinnen Tabea Weinigk und Franziska Kusebauch haben das Konzept für den Workshop entwickelt, und sie arbeiten mit uns gemeinsam an dessen Umsetzung.“

Dresden, Freiburg, Erfurt, Hannover… - fast aus dem ganzen Bundesgebiet sind Teilnehmer zum Workshop gekommen. Der überwiegende Teil der Jugendlichen trägt Cochlea-Implantate. In der Werkstattwoche wohnen alle gemeinsam in einer Jugendherberge. Auch der Besuch einer Opern-Aufführung und einer öffentlichen Ballett-Probe in Dresdens berühmtem Opernhaus gehören zum Programm. Die Finanzierung der Projekt-Woche wurde durch ein Sponsoring von Cochlear Deutschland ermöglicht.

Hörende und hörgeschädigte Jugendliche finden über die Bewegung in einen gemeinsamen Dialog.

Mittlerweile haben die Tänzer neu Position bezogen. Für die „fahrende Rolltreppe“. So heißt die Tanz-Performance, bei der sich zum Rhythmus der Musik Tänzer nach Tänzer wie auf einem laufenden Band seitwärts ausschreitend über die graue Fläche des Turnsaales vorarbeiten - mit expressiven, Raum greifenden Gesten; wie Graffiti-Sprayer, die mit riesigen, rollenden Buchstaben Botschaften an unsichtbare Wände sprühen.

„Thema des Workshops ist Kommunikation“, erläutert Theaterpädagoge De Clercq. „Wir haben gemeinsam überlegt, was dieses Wort bedeutet. Wir haben die Medien, das Theater und den Tanz betrachtet, und uns gefragt, wo und wie Kommunikation überall stattfindet. Und was man daraus künstlerisch machen kann – mit Sprache und ohne Sprache. Auch Bewegung und Tanz sind Kommunikation. Hörende und schwerhörige Jugendliche können über die Bewegung in einen gemeinsamen Dialog treten, sich neu begegnen und voneinander profitieren.“

Keine ausgetüftelten Choreografien, kein andressierter Gleichschritt und auch kein vorgegebenes Ballettstück, das umzusetzen wäre. - Dafür ein gemeinsamer Rhythmus, Freude an der Musik, das Zusammenspiel freier Bewegungen, Spaß an der Improvisation, sich ausprobieren, Möglichkeiten des eigenen körperlichen Ausdrucks entdecken, vielleicht auch Grenzen überschreiten. Anna, Maren, Richard, Lea, Kim, Lissy und die anderen folgen aufmerksam den Pädagogen, die leidenschaftlich bei der Sache sind. Da gilt es, die Handfläche des Gegenübers im Sprung abzuklatschen, im „Pulk“ den „Blick ins Publikum“ wirken zu lassen oder die abschließende „coole Pose“ einzunehmen.

Sitzen, knien, liegen, stehen. Hin und her laufen, auf einen Punkt starren oder sich am Hinterkopf kratzen… - Die Teilnehmer werden angehalten, jedes kleine Detail wertzuschätzen, jede Geste wirken zu lassen, ihr Raum zu geben. Im Zusammenspiel der Tänzer fügen sich die Bewegungen zu Situationen; und aus Situationen entstehen kleine Geschichten. – „Wir wollen Tanz und Theater so miteinander verzahnen, dass ein Tanztheater entsteht“, erläutert Tanzpädagogik-Studentin Tabea Weinigk. „Anfangs haben wir einfach Ideen gesammelt, aufgeschrieben, was uns zum Thema Kommunikation einfällt. Erst dann haben wir den Körper einbezogen. Die Ideen auf dem Papier und unsere Bewegungen sollten sich mit einander verbinden, fließend in einander übergehen.“

Beispielsweise in Form vertanzter Redewendungen. – „Beide Beine in die Hand nehmen, etwas übers Knie brechen, die Hände im Schoß falten, sich mit dem Herzen öffnen… - Wir haben Redewendungen gesucht, die Körperteile beinhalten. Und wir haben diese Wendungen in tänzerische Bewegungen umgesetzt. Dabei sind ganz verschiedene, interessante Dinge entstanden“, so Tabea Weinigk.

Theaterpädagoge De Clercq: „hörgeschädigte Teilnehmer sind ganz besonders geschult in der Körpersprache“

Getanzte Begegnungen, Monologe, Dialoge. - Heute, am vorletzten Projekttag, wird strukturiert. Morgen soll es eine Aufführung geben – für Eltern und Unterstützer. Jeder Tänzer bekommt seine Parts. Rollen werden verteilt. Projekt-Leiter Jan-Bart De Clercq baut mit Hilfe farbiger Karten aus den gemeinsam entwickelten Szenen ein kleines Tanz-Theaterstück. „Dialog Kombi“, „Dialog Tanz“, „Blick ins Publikum“, „Fahrende Rolltreppe“ steht auf den farbigen Karten, die er für alle sichtbar in geplanter Abfolge auf dem Fußboden auslegt. Dann wird unter fachlicher Anleitung mal in kleinen Gruppen, mal gemeinsam gearbeitet, Schritt für Schritt ein großes Ganzes zusammengefügt.

Nach dreieinhalb Stunden intensiver Arbeit ist Mittagspause – und damit gute Gelegenheit, um mehr zu erfahren. Die beiden Tanzpädagogik-Studentinnen Franziska Kusebauch und Tabea Weinigk berichten mir, dass das Projekt zugleich das „Community-Dance-Projekt“ für ihr Studium sei. Die Idee von Community-Dance ist, dass jeder Mensch tanzen kann. Dass man kein ausgebildeter Tänzer sein muss, um tänzerisch Ausdruck zu erlangen.

„Wir haben sehr viel Glück gehabt mit diesem Projekt“, meint Tabea Weinigk. „Ich hatte zuvor noch nie mit Hörgeschädigten gearbeitet. Und es ist ein großer Unterschied. Die Jugendlichen sind sehr viel ruhiger. Sie hören zu, weil sie verstehen wollen. Und sie sind sehr motiviert. Erst hatten wir befürchtet, dass unser Konzept zu schwierig sein könnte und wir dann alles umschmeißen müssten. Aber das war völlig unbegründet. Wir haben fast alles gemacht, was wir auf dem Papier hatten. Für uns ist das ein großer Erfolg.“

„Schon in unseren vorangegangenen Projekten fiel mir auf, dass die hörgeschädigten Teilnehmer ganz besonders geschult in der Körpersprache, in Gestik und Mimik sind“, ergänzt Jan-Bart De Clercq. „Das ist etwas, was gehörlose Jugendliche den gleichaltrigen Hörenden voraus haben. Sie sind sehr ausdrucksstark in ihrer Gestik. Auch beim Theaterspiel und beim Tanz Impulse aufzunehmen, mit der Gestik, mit dem Körper zu improvisieren – all das können sie sehr gut.“

Genauso viel Spaß an Musik wie die hörenden Jugendlichen

Und wie ist es mit der Musik? – „Da konnten wir gerade bei diesem Workshop feststellen, dass die Musikwahrnehmung bei den hörgeschädigten Jugendlichen genau so ist wie bei den anderen“, berichtet der Theaterpädagoge. „Sie bewegen sich genauso zu Musik. Sie erkennen sie ebenso, haben genauso viel Spaß an Musik. Besonders witzig war es nach der Arbeit, nach den Choreografien oder den Improvisationen. Man denkt, jetzt sind sie erschöpft und brauchen eine Pause. Doch was machen sie dann als erstes? Schalten den Ghetto-Bluster an und tanzen… - Sie haben unglaublich Spaß an Musik. Und man merkt, dass sie zu ihrem Alltag dazugehört.“

Sprachtherapeutin Dominique Müller ergänzt: „Sicherlich gibt es auch Unterschiede beim Musikhören. So konnten wir beim Projekt feststellen, dass es für die hörgeschädigten Teilnehmer schwierig ist, melodiebetonte Musik, die keine deutlich erkennbare rhythmische Struktur hat, wahrzunehmen. Aber die Freude, die diese Teilnehmer bei Musik generell erleben, ist nicht anders als bei Normalhörenden.“

Am Nachmittag folgt die Hauptprobe, zu der wir uns in der Probebühne der Semperoper treffen. Kostüme werden verteilt. Neben schwarzen und grünen T-Shirts gibt es Tücher, Hüte, Eimer – und Tanzsäcke, in die die Tänzer hineinschlüpfen, in denen sie sich zu großen, tanzenden Rechtecken verwandeln.

Dann der erste Durchlauf des gesamten Stückes: Stampfende, springende, klatschende, rennende Tänzer füllen die Bühne, gehen ab, um einer weiteren Gruppe Platz zu machen, finden zusammen zum „Pulk“, der den selbstbewussten Blick ins imaginäre Publikum probt, räumen das Feld für einzelne Akteure. Gespielte Szenen, die aus einem Krimi, einem Action-Film und dann wieder aus einer TV-Romanze entsprungen sein könnten.

Es geht um Liebe und Hass, um Angst, Rache, Gewalt, Einsamkeit, Verzweiflung und Aufbegehren. Es wird gelacht, geredet und dennoch geschwiegen. Wie in einer Collage folgt Szene auf Szene, begeben sich die Akteure in immer neue Beziehungen und Konflikte, um sie im nächsten Moment wieder zu verlassen, das Geschehene aufzulösen in Ironie. Es wird gestritten, gedroht, gefleht, gemordet. Es wird gespielt und immer wieder getanzt: „fahrende Rolltreppe“, „Ski-Kombi“, „vertanzte Sprüche“. Zum Abschluss treten sie alle noch einmal an den Bühnenrand. Es folgt ein letzter „Blick ins Publikum“. Und dann natürlich eine „coole Pose“…

Organisatoren und Pädagogen sind sich schon jetzt sicher: Die morgige Aufführung muss ein voller Erfolg werden. Doch nach acht Stunden Workshop ist nun Ausruhen angesagt. Gut möglich, dass das heute Abend in der Jugendherberge schon wieder ganz anders aussieht…

Autor: Martin Schaarschmidt

Stimmen der Teilnehmer zum Projekt

„Ich finde es total schön; vor allem weil viele Jugendliche zusammen sind – solche mit und ohne Hörgerät. Tanzen macht total Spaß, und ich höre auch gerne Musik. Das ganze Projekt ist einfach toll.
Lea (14) aus der Nähe von Freiburg, die selbst zwei CI trägt

„Mir macht es sehr viel Spaß. Ich hab hier sehr viele Freunde gefunden. Und das Tanzen und das Schauspielern macht auch sehr viel Spaß. Ich finde es sehr schön hier. Ich höre auch sehr gern Musik. Das ist kein Problem für mich.“
Lalena (14) aus Gersdorf b. Hohenstein-Ernstthal, trägt zwei CI

„Ich finde, es macht voll viel Spaß, weil hier ganz viele Leute sind - mit CI und ohne. Und man lernt viel dazu. Ich höre gerne Musik mit CI. Das ist ein schöner Klang. Und mit viel Rhythmus ist es am schönsten. Und mich zu bewegen, macht mir viel Spaß. Ich habe auch schon einen Tanzkurs belegt, so Standardtänze. Also, ich tanz gerne.“
Natalie (16) hat ein CI und wohnt in der Nähe von Chemnitz

„Ich find es hier sehr schön, weil ich wirklich neue Freunde kennengelernt habe, und weil ich auch zu Hause tanze. Und ich mag Musik sehr gern. Ich bin mit meiner Freundin hergekommen, die auch taub ist. Und daher kenne ich das eigentlich schon sehr gut. Also, das ist für mich nicht wirklich etwas Neues, mit Menschen mit CI oder Hörgerät in Kontakt zu sein.“
Anna (12) ist nicht hörgeschädigt und kommt aus Wittenberg

„Ich finde das Projekt sehr interessant. - Dass man trotz eines CI tanzen kann, und dass man trotzdem so ein einzigartiges Team entstehen lassen kann. Es sind ja aus ganz Deutschland Menschen hier. Wir treffen uns, lernen uns kennen, haben Spaß, und dann zum Schluss – also morgen – haben wir unseren großen Auftritt, und es wird sich zeigen, wie groß unser Teamgeist ist.“
Loris (15) trägt CI und kommt aus dem Erzgebirge

Kontakt

Sächsisches Cochlear Implant Centrum
0351 458-3539
0351 458-5732
scic@uniklinikum-dresden.de
www.uniklinikum-dresden.de/scic

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