„Ich habe meinen Gehstock weggeworfen“
Elektrische Impulse eines neu entwickelten Gehstimulators können gezielt solche Beinmuskeln aktivieren, die nach einem Schlaganfall oder aufgrund Multipler Sklerose (MS) vom Gehirn keine Impulse mehr erhalten. Um diese Patienten dauerhaft und wirksam zu einem möglichst flüssigen Gang zu verhelfen, implantieren Spezialisten seit gut zwei Jahren Gehstimulatoren. Eines der Zentren mit den umfangreichsten Erfahrungen bei dieser speziellen Versorgung von Patienten mit einer durch Schlaganfall oder Multipler Sklerose ausgelösten Fußheberschwäche ist die Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden. Mittlerweile konnte die Klinik bereits 14 Patienten helfen. Die Dresdner Klinik ist eines von bundesweit zwei Krankenhäusern, die den eigentlich für Schlaganfall-Patienten entwickelten Gehstimulator auch MS-Betroffenen implantieren.
Werner Wesser ist weltweit der dritte MS-Patient, der Dank eines Gehstimulators wieder besser laufen kann. Die schleichende Erkrankung des zentralen Nervensystems hatte die Bewegungsfreiheit des 65-Jährigen stark eingeschränkt. Bereits vor zehn Jahren hatten die Ärzte bei ihm die Diagnose „Multiple Sklerose“ gestellt. Trotz gezieltem Einsatz spezieller Medikamente fiel es ihm zunehmend schwerer, längere Strecken zu gehen: Er konnte den linken Fuß nicht mehr richtig anheben, drohte permanent zu stolpern und konnte zuletzt nicht länger als 200 Meter am Stück zurücklegen.
Heute sorgen elektrische Impulse dafür, dass die Bewegungen von Werner Wessers Fuß so ablaufen, dass er wieder längere Strecken gehen kann. Einem Außenstehenden fällt die ursprüngliche Einschränkung kaum auf. Dabei reicht ein kleiner Schalter des am Gürtel befestigten Steuergerät aus, um ihn an die Zeit ohne Gehstimulator zu erinnern: Schaltet er es aus, ist seine Fußheberschwäche unübersehbar.
Die innovative Form der Nervenstimulation eröffnet vielen Betroffenen die Chance auf wiedergewonnene Lebensqualität. Doch es gibt wichtige Vorbedingungen für den erfolgreichen Einsatz der innovativen Technik: „Die Lähmung, die die Fußheberschwäche auslöst, muss zentral bedingt sein, also von Gehirn oder Rückenmark ausgehen. Sie darf nicht von einem Bandscheibenvorfall oder von einer das komplette Nervensystem betreffenden Erkrankung herrühren“, sagt Dr. Daniel Martin. Als Bereichsleiter: periphere Nerven- und Plexuschirurgie der Klinik für Neurochirurgie des Dresdner Uniklinikums ist er einer der wenigen Experten in Deutschland, der Patienten Gehstimulatoren implantiert.
Für den Neurochirurgen ist Werner Wesser ein ganz besonderer Patient. Von den 14 bisher von ihm mit dem Implantat versorgten Personen ist er der erste von ihm operierte, der aufgrund von Multipler Sklerose unter einer Fußheberschwäche leidet. Und die Zahl der Ausschlusskriterien ist bei MS noch größer: „Die Lähmung muss dauerhaft im selben Bein auftreten und darf sich über die Zeit nicht in andere Körperteile verlagern“, so Dr. Martin.
Ob der implantierte Stimulator hilft, den Gang zu verbessern, lässt sich vor der Operation gut abschätzen: Auch Werner Wesser erhielt zunächst einen Gehstimulator, der den für das Heben der Fußspitze verantwortlichen Nerv von außen durch die Haut anregt. Somit erlebt der Patient die Funktion und das neue Gehgefühl im Alltag. Der Entschluss, es nicht bei der oft weniger präzisen und in einigen Fällen auch mit Missempfinden verbundenen Oberflächenstimulation zu belassen, fiel dem MS-Patienten leichter als vielen Leidensgenossen. Bereits diese, bereits länger angewandte Technologie hatte seine Lebensqualität deutlich verbessert.
Nach weiteren aufwändigen Untersuchungen implantierte Dr. Martin dem in Berlin lebenden Werner Wesser im Dresdner Uniklinikum den Impulsgeber im linken Bein. Wie alle neurochirurgischen Eingriffe bedeutet das höchste Präzision im Bereich von Millimetern, damit später die elektrischen Impulse an der richtige Stelle des Nervs anliegen. Außerhalb des Körpers befinden sich Steuereinheit, Antenne und der in Form eines Strumpfes getragene Fersensensor. Er sorgt dafür, dass die Steuereinheit weiß, wann der Muskel für die Bewegung des Fußes aktiviert werden muss.
Seit dem 17. Oktober lebt Werner Wesser mit dem Implantat. Nach kurzem Klinikaufenthalt ging er für drei Wochen in eine spezielle Rehaklinik. „Das ist wichtig, um die über die Jahre zurückgebildeten Muskeln wieder aufzubauen und das durch die Behinderung angewöhnte Gangmuster abzutrainieren“, erklärt Dr. Daniel Martin. In den knapp vier Wochen seit der Operation hat sich Wessers Gang wesentlich gebessert: „Ich habe meinen Gehstock weggeworfen. Jetzt kann ich mit meiner Frau in Urlaub fahren und bei kurzen Spaziergängen wieder mit ihr mithalten“, sagt er stolz.
Bereits jetzt kann Wessel wieder zwei Kilometer laufen. Noch im Sommer war das undenkbar. „Sie stehen erst am Anfang“, sagt Dr. Martin. Er erwartet durch ein aktives Leben seines Patienten, dass sich die Mobilität noch weiter verbessert. Mit positiven Folgen: Denn durch ein besseres Gangbild sinkt das Risiko typischer Folgeerscheinungen wie übermäßiger Gelenkverschleiß oder mit Bewegungsarmut verbundener Erkrankungen – etwa der Gefäße. Auch das sind wichtige Argumente für die Versorgung von Schlaganfallpatienten, die an einer Fußheberschwäche leiden. Denn durch eine verbesserte Gefäßgesundheit sinkt das Risiko, erneut einen Hirnschlag zu erleiden.
Hintergrundinformation
Fußheberschwäche
Die Bewegungen des Körpers werden durch das Gehirn gesteuert. Wenn Teile davon durch Erkrankungen wie Schlaganfall oder Multiple Sklerose zerstört werden, können die zur Bewegung eines Körperteils notwenigen Reize nicht mehr ausgelöst werden. Das trifft auch auf die Fußheberschwäche zu.
Implantierter Gehstimulator
Ein neues Verfahren um bei einer Fußheberschwäche die Gehfähigkeit zu verbessern, bietet das in Dänemark entwickelte und hergestellte System „ActiGait“. Es besteht aus einem implantierten Element und mehreren externen Teilen. Dem Erkrankten wird in einer Operation das Implantat eingesetzt, das aus einem Stimulator und einer Manschettenelektrode für den Wadenbeinnerv besteht. Eine Steuereinheit, ein Fersenschalter sowie eine Antenne sind die externen Teile.
Und so funktioniert der Stimulator: Sobald der Fuß den Boden nicht mehr berührt, sendet der in einem Strumpf integrierte Fersenschalter diese Information an die am Gürtel befindliche, externe Steuereinheit. Sie verarbeitet den Impuls weiter und leitet in dann an eine auf der Hautoberfläche mit einem Pflaster angeheftete Antenne. Von dort aus erreicht das Signal schließlich das Implantat, das den Muskel stimuliert und so das Heben des Vorfußes auslöst..
Kontakt
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden
Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie
Dr. Daniel Martin
Leiter des Bereichs periphere Nerven- und Plexuschirurgie
Telefon: 0351 458-6933 oder -3157
Fax: 0351 458-7322
daniel.martin@uniklinikum-dresden.de
www. uniklinikum-dresden.de/nch
Archiv